Ich bin im Sommer zufällig über die Reihe „Blue Period“ von der Mangaka Tsubasa Yamaguchi gestolpert – und mitten in sie hineingefallen.
Blue Period ist anders als alle Mangas, die ich bisher gelesen habe. Es ist einerseits eine „gewöhnliche“ Slice of Life Geschichte, in der es um das Erwachsenwerden, den eigenen Platz im Leben und die Menschen um einen herum geht. Aber viel mehr ist dieser Manga ein Manga über das Schaffen von Kunst und die Kunst selbst. Und obwohl die Geschichte sich in erster Linie mit der Malerei beschäftigt, enthält sie vieles, was sich problemlos auf das Schreiben (und sicher auch andere Künste) übertragen lässt. Obwohl ich seit über 20 Jahren nicht mehr selbst gezeichnet habe, habe ich mich in vielen Denkprozessen des Protagonisten wiedererkannt, konnte seine Zweifel & Ängste nachvollziehen und habe auch für mich neue Lösungsansätze entdecken können.
Der Hauptcharakter der Geschichte ist Yatora Yaguchi, ein Oberschüler im zweiten Jahr, was bei uns dem Jahr vor dem Abitur entspricht. Er gilt als Rowdy (meint einen Schüler, der sich nicht dem Standard anpasst, der gepierct ist & raucht und trinkt), der sich die Nächte mit seinen Kumpels in Bars um die Ohren schlägt, trotzdem ist ein fleißiger und guter Schüler mit einwandfreien Noten. Er könnte es problemlos an die Uni schaffen, um „etwas Solides und Vernünftiges zu machen“. Was das genau sein soll, weiß er nicht, aber vernünftig soll es wohl sein, denn er hat sich vorgenommen, seinen Eltern keinen Kummer zu bereiten.
Doch dann stolpert er im Kunstraum zufällig über das Gemälde einer Mitschülerin aus dem Kunst-Club und ist davon sofort fasziniert. Sowas hat er noch nicht gesehen! Seine Kunstlehrerin setzt einen zusätzlichen Denkprozess in Gang, als sie ihn nach seinem Blickwinkel fragt. Und in der folgenden Stunde nutzt er den Kunstunterricht erstmals zu mehr als einem Nickerchen, taucht ein in die Welt der Malerei und entdeckt, dass es da etwas gibt, was er verstehen und begreifen will; dass er etwas will.
Kurzerhand tritt Yota dem Kunst-Club bei und stürzt sich mit Übereifer auf die neuen Aufgaben. Da er in seinem Leben nie gezeichnet hat, sind seine handwerklichen Skills im Vergleich zu den anderen Club-Mitgliedern nicht besonders ausgeprägt, auch sein Wissen über Farben und Techniken ist begrenzt. Doch mit Fleiß und Eifer stellt er sich immer neuen Herausforderungen. Je mehr er lernt und entdeckt, wird ihm klar: Das ist es, was er später machen möchte!
Doch die einzige staatliche Kunstuniversität Japans ist natürlich sehr gefragt und die Zugangsanforderungen sind hoch. Er investiert seine gesamten Ersparnisse in einen Vorbereitungskurs für diese Uni … und seine Reise in die Kunst beginnt.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll aufzuzählen, was mich an diesem Manga so fasziniert.
Da sind zum einen die wunderbaren und vielfältigen Charaktere. Sie alle sind in gewisser Weise schräge Vögel und das macht sie so besonders und liebenswert. Da ist die ZU LAUTE Lehrerin der Vorbereitungsschule, die für alle ihre Schüler*innen die richtigen Ratschläge parat zu haben scheint. Die kleine Mori, deren Gemälde Yato dazu gebracht hat, sich mit Kunst zu beschäftigen. Yuka, der Frauenkleider trägt und japanische Malerei studieren möchte, um seine Oma glücklich zu machen. Das Genie Takahashi, dem alles zuzufliegen scheint, und Kuwana, die Yato insgeheim am meisten bewundert, die aber sehr unter dem Druck leidet, im Schatten ihrer Familie zu stehen, die alle bereits vor ihr auf der Gedai-Universität waren.
Es geht um Kunst als Ausdrucksform. Um Kommunikation ohne Worte.
Da Yato ein Anfänger ist, werden ihm (und gleichzeitig dem Lesenden) immer wieder viele Grundlagen vermittelt. Es geht um Maltechniken, Farbkreise, Pinsel und Untergründe. Man erfährt, wie man eine Leinwand spannt, welche Utensilien zum Zeichnen geeignet sind, wie sich verschiedene Techniken verbinden lassen, welche Eindrücke sie vermitteln usw..
Viel interessanter war für mich jedoch der Aspekt der Wahrnehmung. Perspektive und Gefühl. Wie kann ich mit anderen kommunizieren und ihnen vermitteln, was ich fühle und empfinde? Wie kann ich zeigen, wie ich Dinge sehe und erlebe, ohne, dass ich es aussprechen muss? Wie kann ich andere durch meine Augen sehen lassen?
Auch Themen wie Rückschläge und Zweifel am eigenen Schaffen, oder Erfolge und der Umgang mit Erwartungen werden nachvollziehbar dargestellt. Es geht um talentierte Genies versus hartarbeitende „Normalos“. Das scheinbar separierte Lernen einzelner Dimensionen eines Gemäldes, das sich im Rückblick dann aber in ein wunderbares Ganzes ergänzt.
Immer wieder benennt Yatos Geschichte die Alltäglichkeiten, die wohl die meisten Kunstschaffenden kennen: Was sehe ich, wie sehen es andere? Wie sehen mich andere? Nicht gut genug sein, nicht schnell genug sein, alles ist plötzlich wertlos. Trotz dieser teils düsteren Gedanken findet die Geschichte immer wieder Wege, ihre Charaktere aufzufangen und sie zu erinnern: Auch Pausen, Gespräche mit anderen (Lehrenden, Künstlern oder Betrachtern) sind ein Teil des Schaffensprozesses. Es lohnt sich, jeden Tag aufzustehen und mit sich selbst zu kämpfen. Denn auch, wenn das fertige Bild das Ziel ist – zeigt „Blue Period“ immer wieder, dass es das Ergebnis nie gegeben hätte, ohne den Weg und die Umwege dorthin.
Der Manga ist unfassbar realistisch erzählt. Es geht um Leidenschaft und Zweifel. Es fehlt jegliche Romantisierung der Kunstwelt. Die japanischen Universitäten, die hier vorgestellt werden, gibt es wirklich. Die Zugangsbeschränkungen entsprechen der Realität, die Studiengebühren ebenfalls. Es wird klar gesagt, dass es schwer ist, einen Uniplatz zu bekommen, noch schwerer, am Ende auch mit dem Studium Geld verdienen zu können. Dass es oft Glückssache ist, wer sich womit einen Namen machen kann. Und dennoch zeigt die Reihe, wie viel die Kunst den Charakteren bedeutet, wie viel sie dafür zu opfern bereit sind.
Auch bezieht der Manga regelmäßig die Werke echter Künstler mit ein. Zum einen werden z.B. bei Museumsbesuchen klassische Meisterwerke erklärt (natürlich bezieht sich der Reihentitel „Blue Period“ auf Picassos berühmte Schaffensphase), aber die gezeigten Bilder der Kunststudent*innen um Yato stammen von tatsächlichen jungen japanischen Künstlerinnen und Künstlern, die am Ende jeden Bandes ihren Raum bekommen.
Natürlich ist „Blue Period“ in erster Linie ein Manga über Malerei und darstellende Kunst. Aber ich glaube, jeder, der in irgendeiner Weise Kunst schafft, kann aus dieser Geschichte etwas für sich herausziehen. Wenn du dich schlechter fühlst als andere, wenn du zweifelst oder gerade in einem Tief hängst – Blue Period kann dir Mut schenken, vielleicht helfen, es zu überwinden, dir möglicherweise sogar die Antworten geben, die du suchst, oder neue Lösungswege eröffnen.
Aktuell sind 12 Bände der Reihe auf Deutsch bei Cross Cult bzw. Cross Manga erschienen, Nr. 13 folgt im Februar. Die ersten 6 Bände befassen sich mit Yatos Schulzeit bzw. der Zeit im Vorbereitungskurs und enden mit der Aufnahmeprüfung für die Uni. Danach folgen wir seiner weiteren Entwicklung.
Im Japan sind bisher 15 Bände erschienen.
Außerdem gibt es zu „Blue Period“ eine gleichnamige Anime-Serie auf Netflix mit 12 Episoden. Mich konnte sie nicht ganz so sehr überzeugen wie der Manga, weil gerade die Themen, die mich in den Büchern so fasziniert haben, oberflächlicher abgehandelt werden. Aber in Summe kann ich auch die Serie sehr empfehlen.